SHM-Tidentörn 2024 – Training auf der Nordsee

Ein Erlebnisbericht

Freitag, der 14. Juni 2024: Los geht’s. Wir starten zum lang erwarteten “Tidentörn”.

Von Workum am IJsselmeer wollen wir vierzehn Tage hinaus ins Wattenmeer und auf die Nordsee: zwei Crews à fünf auf zwei Bavarias, der “Skyfall” 36″ (2013) und der “Sparrow” 37″ (2006). Diese sollten ähnlich sein – so war’s gedacht. Zehn Leute unterwegs – das ergäbe mindestens zehn Berichte. Hier ist einer davon.

Was haben wir seit Jahresbeginn nicht alles vorbereitet: Karten besorgt, immer wieder berichtigt und studiert. Dazu den Umgang mit Gezeitenkalender, Reeds (nautical almanac) und Strömungsatlas HP33 geübt, diverse Apps geprüft und das Web durchforstet. Wo sind die wichtigen Informationen versteckt, was Wetter und Wind, Reviere und Häfen angeht. Und vor allem: Wie finden wir schnell und richtig die Tiden-Angaben? Was ist mit Fahrwassern, Tonnen, Funkkanälen? Welche Häfen kommen überhaupt in Frage? Wohl wissend, dass später an Bord für solche Grundlagenarbeit keine Zeit sein wird. So geht Training halt – interessant und lehrreich, aber am Ende bleibt doch nur eins: Wir müssen raus “auf See” und sehen, was all unsere Vorbereitungen wirklich wert sind.

“Ins Wattenmeer und auf die Nordsee hinaus” ist ja noch kein Plan. Aber da hatte doch stets der große, heimliche Wunsch mitgeschwungen: Möge das Wetter es zulassen, dass wir nach Helgoland kommen! Und tatsächlich, die Wetterlage ist günstig dafür. Wir machen Helgoland zum Dreh- und Angelpunkt der Planungen. Das heißt, wir wollen zügig dorthin, um genügend Zeit und Reserven für den Rückweg zu haben. Nehmen wir das Logbuch zur Hilfe und zeichnen die Tage nach.

Freitag, Tag 1: Wir können in Workum die Boote übernehmen und segeln am gleichen Tag noch nach Makkum. Das ist nicht weit, nur 9,5 sm (Seemeilen), hilft aber, das Boot kennenzulernen und wir kommen schon ein gutes Stück näher an die Schleuse in Kornwerderzand heran. Denn am nächsten Morgen soll starker Wind kommen, und wir wollen gern vorher um 11 Uhr in Harlingen richtig festliegen. Dazu sollten wir besser um sechs Uhr an der Lorentz-Schleuse in Kornwerderzand sein, denn später müssten wir vielleicht erst die Berufsschifffahrt abwarten.

Samstag, Tag 2: Es klappt. Wir kommen rechtzeitig durch die Schleuse. Und nach Harlingen. Nur der starke Wind lässt auf sich warten – kommt viel später. Soll er doch, wir liegen fest, nach gut zehn Seemeilen.
Wir haben also Zeit, weitere Dinge auszuprobieren. Und ach, oh weh, wir stellen fest: Unser schönes Bord-Funkgerät lässt uns zwar vieles hören, aber wir können nicht senden! Ohne Funk und ohne Distress-Knopf unsererseits – das wollen wir nicht. Was also tun? Gut, dass wir einen ausgefuchsten Experten in Sachen Technik an Bord haben. Geduldige, akribische und systematische Untersuchung ergibt: Das Funkgerät selbst hat den Defekt. Da kann auch der Vercharterer nicht mehr anders, er muss anreisen und bringt uns ein – altes – Ersatzgerät. Es hat kein funktionierendes DSC, aber Reichweite. Nun gut, damit können wir leben!

Sonntag, Tag 3: Wir wollen nach Terschelling. Es ist kalt, regnerisch, Wind 5 bis 6. Ab jetzt richten sich die Zeiten nach der Tide. Ablegen also 06:50 Uhr. Wind plus Strom, das ergibt schon eine Menge Fahrt.
Aber die Sicht im Vliesstrom ist miserabel. Da voraus, das muss laut Karte doch unsere Ansteuerungstonne sein. Und dann geht’s an Steuerbord ins Schuitengat, sagen alle unsere Karten. Aber wo sind bloß die Tonnen? Wie gut, dass wir vorschriftsmäßig den Blockkanal 2, abhören. Die Revierzentrale “Brandaris” auf Terschelling hat uns erfasst und warnt. Sie spricht die SPARROW an, denn die hat AIS: “Sparrow, Sparrow, you are running into shallow water!” Scheinbare Ewigkeiten später kapieren wir das dann auch richtig: Ja, wir sind gemeint! Wir tuten Alarm, warnen uns gegenseitig und gehen auf Gegenkurs. Aufreizend schön und ruhig hatte die Damenstimme von Brandaris uns angesprochen. Beim Gedanken an den Inhalt der Warnung aber läuft es uns doch heiß und kalt den Rücken hinunter. Merke: Tonnen sind im Wattenmeer keineswegs immer dort, wo sie in der Karte stehen, auch wenn alle Karten sich einig sind. Tonnen sind nur dort, wo man sie sieht! Anzahl und Positionen können sich verändert haben. Das Fernglas ist Trumpf. Und so eine kleine Plastik-Vuvuzela, angelascht am Steuerstand, erzeugt schon bei leichtem Pusten ein ganz veritables Schallsignal. Die will ich auch haben.

In der Hafengasse gab’s dann gleich weitere “Lerngeschenke”. Die SPARROW hat kein Bugstrahlruder und findet heraus, dass sich das Schiff – bei den Verhältnissen – ums Verrecken nicht wenden lässt. Schweißperle, geh weg! Um 13:15 Uhr liegen wir endlich im Hafen fest. Haben wir das wirklich gerade alles erlebt? Das waren ja nur 24 sm, die fühlten sich aber an wie das Doppelte. Wir brauchen alle dringend einen Mittagsschlaf!
Und merke: See-Funkgeräte kann man gar nicht genug haben! Neben dem mit Dualwatch betriebenen Bordgerät hatten wir noch zwei bis drei Handfunkgeräte am Steuerstand für Kanal 16, Blockkanal 2 (Brandaris) und Kanal 72 Schiff zu Schiff.

Montag, Tag 4: Wir gewöhnen uns langsam an die Verhältnisse. Ablegen 05:05 Uhr, Festmachen 19:45 Uhr auf Borkum. Das waren 81 sm, davon nur gut 15 sm unter Motor.
Ein schöner, langer Schlag bei 4 bis 5 Bft. überwiegend raumschots.
Und die ganzen Berechnungen haben in der Praxis gestimmt!
Nicht schlecht!

Dienstag und Mittwoch, Tage 5 und 6: Jetzt geht’s ans Eingemachte. Helgoland ist das Ziel. Und um dorthin zu kommen, starten wir abends um 20:00 Uhr von Borkum und fahren in die nahezu Vollmond-Nacht hinein. Wie gut, dass es nicht regnet. Aber kalt ist es, und die Nacht ist lang. Der Wind “passt” und die Lichter bei Nacht sind faszinierend.

Was uns alle am meisten beruhigt: Wir machen wirklich Flottille und bleiben nah beieinander und wir halten Funkkontakt. Für die SKYFALL heißt das: Wir segeln was wir können. Aber das Vorsegel ist halt nur eine Fock, und die Holepunkte ändern nicht wirklich etwas, denn sie sind für eine Genua gedacht. Und das (Roll-) Groß ist auch nicht der Knaller. Es stößt sehr früh an die stark gepfeilten Salinge. Die SPARROW dagegen hat eine gute, große Genua und ein gutes gelattetes Großsegel und ist allein technisch schon deutlich schneller. Sie nimmt’s sportlich und findet seglerische Aufgaben darin, die Segel so zu trimmen, dass die Geschwindigkeit zur langsameren SKYFALL passt. Aber auch so etwas ist eine Herausforderung und macht Spaß. Der Schlag ist lang, aber erfolgreich: Am nächsten Tag, mittwochs, machen wir um 14:30 Uhr im Hafen Helgoland fest. Knapp 88 sm liegen hinter uns, bei minimalem Motoreinsatz. Geschafft!

Donnerstag, Tag 7: Wir machen einen Ruhetag auf Helgoland.
Es ist genau der richtige Tag. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, und Wind ist ohnehin keiner da. Das passt doch super und bringt Erholung. Wo will man ohne Wind schon hinsegeln!

Freitag, Tag 8: Zeit für neue Taten. Wangerooge ist das Ziel. Wieder bestimmt die Tide die Zeit zum Ablegen. Es ist 06:50 Uhr.
Heute wird’s wirklich ernst, was das Befahren von Tidengewässern angeht. Es gilt, die flache Barre vor Wangerooge zur richtigen Zeit zu überqueren. Und Tonne für Tonne schön dem gezackten Fahrwasser zu folgen.
Wir sind konzentriert und hatten ja schon gelernt: Die Tonnen sind nur dort, wo wir sie sehen. Die Karte zeichnet da einfach nicht das richtige Bild. Und dann, wunderbar, wir sehen schon die Einfahrt zum Hafen. Als Trainingsaufgabe hatten wir gerade noch überlegt: Wenn jetzt der Motor ausfiel, bei diesem Strom, Fahrwasser und Wind: Wie würden wir am besten reagieren? Ach, das überlegen wir später. Wir sind ja schon fast da. Vielleicht meinte Petrus, wir sollten es nicht zu leicht haben, und er schickt uns einen plötzlichen Wolkenbruch zum Gruß. Alle sind nass, denn Zeit zum Umziehen hatte niemand gefunden. Die Crews nehmen’s gelassen – es ist ja nur ein Wolkenbruch, der geht vorbei. Solange es nicht ein Mast- oder Schotbruch ist…
Nach 29 sm liegen wir um 13:20 Uhr fest. Das war schon spannend. Und wie wenig Wasser da um die Insel zurückbleibt, wenn erst mal richtig Niedrigwasser ist. Der Hafenmeister hatte beim Anruf am Vortag angekündigt, es würde bestimmt zum Wochenende richtig voll werden im Hafen. Also vorrücken und Päckchen machen. Hhm, entweder erzählt er das immer oder die potentiellen Gäste haben kurzfristig umdisponiert. Besonders voll wurde es im Hafen nicht.

Samstag, Tag 9: Wir legen um 11:15 Uhr ab und machen um 20:00 Uhr in Norderney fest. Gesamtstrecke 36 sm, zur Hälfte gesegelt, Wind 3 bis 4 Bft.
Gibt’s was Besonderes zu sagen? Ja! Kopfschüttelnd betrachten wir unser eigenes Verhalten. Hätten wir zu Hause “im Trockenen” ernsthaft geplant, so oft bei Niedrigwasser zu fahren und einzulaufen? Bestimmt nicht. Und wie nah das Fahrwasser mit den roten Tonnen direkt am Norderneyer Weststrand vorbeiführt!

Sonntag, Tag 10: Jetzt, in der zweiten Woche, ist das Wetter schöner und vor allem spürbar wärmer. Gelegenheit für einen Ausflug auf Norderney. Denn erst um 18:00 Uhr heißt es heute wieder: Ablegen und auf nach Lauwersoog. Es wird wieder eine Nachtfahrt, aber diese ist bei weitem nicht so anspruchsvoll wie die erste nach Helgoland. Der Mond sorgt für Sicht, aber es gibt keinen Wind und keine Welle. Wir müssen also 64 sm motoren.
Gut, dass der Autopilot doch funktioniert! Zuvor hatten wir ein “seltsames” Verhalten bemerkt. Aber es hat alles seine Richtigkeit. Zum einen muss man genau lesen, was die Multifunktionsknöpfe im jeweiligen Augenblick für eine Funktion haben. Und dann, ungewohnt: Es gibt Knöpfe für 1-Grad Änderungen. Der Knopf daneben ändert den Kurs aber gleich um 90 Grad! Wofür braucht man das? Wir fahren doch nicht durch Manhattan.

Montag, Tag 11: Wir kommen nach Lauwersoog und liegen morgens um 09:15 Uhr fest. Herzerwärmend, dass der Fischer extra sein Führerhaus verlässt, um uns zu grüßen, zum Dank dafür, dass wir so rechtzeitig und deutlich auf Ausweichkurs gegangen sind.
Abends haben wir uns alle auf der SPARROW versammelt, zum Planen und Klönen und zur allgemeinen Erheiterung. Plötzlich ein riesiges Gerumpel, ein Segler will wohl in die Box neben der SPARROW und hat sie gerammt. Au weia, das hörte sich richtig schlimm an. Aber, oh Wunder: Der SPARROW ist nichts passiert. Das andere Boot kam wohl “reingeschibbelt” und hat mit seiner Reling den Anker erwischt. Unser Mitgefühl gilt dem anderen Segler. Alle Unfalldaten wurden ausgetauscht und der Vercharterer verständigt. Wie schön, dass dieses Erlebnis für uns ohne weitere Folgen blieb. Vorbildlich war das Verhalten aller Beteiligten. Alle waren völlig ruhig, es war fast still. Das Helfen stand im Vordergrund, und wer nicht helfen konnte, hielt sich abseits.

Dienstag, Tag 12, 25. Juni 2024: Mit dem ersten Licht legen wir um 04:30 Uhr ab und visieren Vlieland an.
Inzwischen kennen wir das Segeln in diesem Bereich ja schon und sehen Ameland und Terschelling langsam vorüberziehen. Vor Vlieland angekommen, können wir nicht einlaufen. Rote Lichter signalisieren “Alles voll!”, und weitere Yachten liegen schon in Lauerstellung. Also ändern wir den Plan. Wir gehen wieder nach Terschelling. Jetzt, bei guter Sicht und einem schönen vierer Wind, ist uns völlig unverständlich, dass wir beim ersten Mal die Einfahrt zum Fahrwasser nicht finden konnten. Ist das wirklich das gleiche Revier? Im Hafen liegen wir im Päckchen. Der freundliche Niederländer neben uns erzählt, dass er die SKYFALL und die SPARROW von Workum her kennt. “Ja”, erzählt er, “die SKYFALL kenne ich. Die ist total lahm. Die macht bei unseren Wettfahrten immer den letzten Platz!” Ah ja, das deckt sich mit unseren Erkenntnissen!

Frachter versperrt Einfahrt Wangerooge

Heute macht eine Nachricht die Runde: Ein Frachter ist quer gelaufen und blockiert das gesamte Fahrwasser von Wangerooge! Man kommt nur noch mit dem Flugzeug hin. Gut, dass wir dort schon längst wieder weg sind. Tidengewässer sind anspruchsvoll. Jede Woche passiert etwas!

Mittwoch, Tag 13: Ablegen um 10:00 Uhr in Terschelling, Ziel ist Texel. So kurz und direkt, wie man denken könnte, geht das aber nicht. Man muss erst wieder nach Harlingen und im richtigen Moment, wenn der Strom kentert, wieder hinaus nach Texel.
Die SPARROW ist sportlich und ehrgeizig und schafft das punktgenau – großes Lob! Die SKYFALL beschließt, es etwas ruhiger angehen zu lassen und direkt wieder die Schleuse in Kornwerderzand anzusteuern. Wir dürfen bald durch, bei nur mäßigem Getümmel der lauernden Sportboote. Wir gehen nach Hindeloopen und finden eine freie “Premium”-Box gleich vorne. Die Abendstimmung am Deich ist malerisch. Das waren dann für heute gut 32 sm.

Donnerstag, Tag 14: Beide Yachten kehren nach Workum zurück, und wir treffen uns im Restaurant in Workum tatsächlich pünktlich um 19:00 Uhr zum großen Abschluss-Essen und Abschiedspalaver. Neben den vielen Erlebnissen schleichen sich auch Glücksgefühle und Dankbarkeit ein: Es ist alles gut gegangen! Wir hatten keine Verletzten, keine fatalen Krankheiten, keine Technikausfälle und keine Unfälle. Nur eins unserer eigenen Weingläser ist kaputt gegangen. Wenn das als Talismann funktioniert, sollten wir beim nächsten Mal vielleicht eines gleich zu Anfang umwerfen!

Die SKYFALL kommt insgesamt auf 461 sm, die SPARROW auf 494 sm. Wer mag, kann sich die genauen Tracks schön übersichtlich im Web anschauen. https://t1p.de/shm-tide24-google-maps. Dort gibt’s auch weitere “Rohnotizen”, die das Erlebte illustrieren und von denen in diesem Beitrag noch gar kein Gebrauch gemacht wurde.

Tipp zur Aufzeichnung von Tracks: Eine recht bekannte App zur Fahrradnavigation sowie diverse andere für Smartphones eignen sich hervorragend dazu, die zurückgelegte Strecke aufzuzeichnen. Auch offline, auch auf See. Sie laufen auf dem Handy “nebenher” und benötigt nur wenige Klicks. Evtl. ist zuvor ein gängiges Format wie GPX auszuwählen. Es bleibt nur das Ein- bzw. Ausschalten nicht zu vergessen ;-).
Meine Tracks vom Tidentörn 2024 sind hier öffentlich: https://t1p.de/shm-tide24-komoot-maps. Meldet man sich mit einer E-Mail-Adresse an, kann man Details (Zeiten, Geschwindigkeit) in den Tracks erkennen.

Was bleibt? (Lern-) Erfahrungen ohne Ende! Ja, das war Training, in jeder Hinsicht. Und das Navigieren in der Nordseekarte ist nun endlich keine abstrakte Trockenübung mehr, sondern mit realen Bildern und Erfahrungen hinterlegt. Unser Dank gilt dem Verein und jedem Crewmitglied – besonders den Schiffsführern Kalle und Walter -, denn nur die Gemeinschaft ermöglicht dieses Erlebnis. Und der nächste gute Wind wird kommen, bestimmt!

Martin Bless